Jugendarmut ist in Europa ein echtes Problem. Die sozialen Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa für junge Menschen beleuchtet Laura Gies, unsere Referentin für Europäische Jugendpolitik.
2017 waren Kinder und Jugendliche bis 24 Jahren die am meisten von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohte Altersgruppe in Europa. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat nicht nur Jugendarbeitslosigkeit in die Höhe schnellen lassen. Sie hat auch die Risiken für junge Menschen grundsätzlich vergrößert, arm zu werden. Nationale, strukturelle Probleme der Jugendarbeitslosigkeit wurden durch politische Antworten auf die Krise verschärft. Einige Mitgliedstaaten wurden gezwungen, eine strenge Haushaltspolitik umzusetzen, die auf Einsparungen und Verringerungen von Investitionen in Bildung und Sozialpolitik fokussierte. Diese Austerität hatte vor allem Folgen für den sozialen Zusammenhalt und die intergenerationelle Gerechtigkeit.
Es waren besonders viele junge Menschen, die von den Haushaltskürzungen betroffen waren – und bis heute noch sind. Die Jugendarbeitslosigkeit und die Anzahl prekär beschäftigter junger Menschen stieg nach 2011 rasant an. Selbst heute sind die sozialen Konsequenzen der Krise nicht ausgestanden: Besonders die südlichen Länder, die für Geldanleihen zu Strukturreformen gezwungen wurden, haben sozial und wirtschaftlich gelitten.
Der traditionelle Weg von Bildung, Ausbildung und Berufseinstieg ist zunehmend steinig geworden. Junge Menschen schaffen es immer später, in den Arbeitsmarkt einzusteigen und ihr Leben autonom von den Eltern zu gestalten. Das führt nicht nur dazu, dass junge Menschen weniger zum Wohlfahrtsstaat beitragen. Es führt auch dazu, dass sich der Lebensablauf nach hinten verschiebt. Viele junge Menschen in Europa sind heute Anfang 30, wenn sie ihre erste unbefristete, sozialversicherungspflichtige Arbeitsstelle antreten.
Hinzu kommt, dass die Jugend oft nicht als eigenständige Lebensphase gesehen wird. Strukturell basieren viele Wohlfahrtsstaaten immer noch auf den drei ursprünglichen Kategorien Kind, Arbeitnehmer*in und Rentner*in. Gleichzeitig sind junge Menschen von einigen Leistungen ausgenommen. Das führt nicht nur dazu, dass sie keinen Zugang zu Sozialleistungen haben. Wenn sie Leistungen erhalten, dann sind diese oft inadäquat. Viele junge Menschen fallen durch das Sicherungsnetz, insbesondere sind das junge Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion, Sexualität oder Beeinträchtigung diskriminiert werden. Zu Beginn des Berufslebens hat das fatale Folgen auf individueller, aber auch auf gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene. Das muss bei zukünftigen Reformen der Wohlfahrtstaaten und bei der Entwicklung des sozialen Europas dringend berücksichtigt werden.
Die soziale Situation junger Menschen in Europa
Seit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise fokussierten Politikmaßnahmen auf die Reduktion der Jugendarbeitslosigkeit. Ziel war es, junge Menschen besser auszubilden und ihnen den Übergang in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Mit Hilfe der Jugendgarantie wollten die Mitgliedstaaten allen jungen Menschen bis 25 Jahren spätestens vier Monate nach dem Abschluss der Bildung oder nach Beginn der Arbeitslosigkeit eine Arbeitsstelle, weiterführende Ausbildung oder Bildung garantieren. Die Schaffung neuer sozialversicherungspflichtiger Arbeitsstellen, die für den Berufseinstieg geeignet wären, wurde dabei größtenteils vernachlässigt. Das ist insbesondere zu bedauern, weil die Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern nicht wegen mangelhaft ausgebildeten Jugendlichen stieg. Ganz im Gegenteil: Junge Menschen sind heute so gut qualifiziert wie keine Generation davor. Zudem wurde gerade in ländlichen Regionen Mobilität für junge Menschen oft voraus gesetzt: Die Migration in ein anderes Land ist oft der einzige Ausweg, obwohl Mobilität immer etwas Freiwilliges sein sollte. Die daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Folgen kann für die betroffenen Regionen oder Länder nicht unterschätzt werden. Nicht zuletzt deshalb hätte der zentrale Ansatzpunkt die wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa und die Anzahl Stellen für junge Menschen sein müssen.
Trotz Fokus auf die Jugendgarantie wurde auch ihre Umsetzung nur halbherzig verfolgt, weil eine nicht-verbindliche EU-Empfehlung an die Mitgliedstaaten Grundlage war und zu wenig Geld bereit gestellt wurde, um die strukturelle Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die unzureichende Antwort der EU und der Mitgliedstaaten auf die Jugendarbeitslosigkeit hatte zur Folge, dass die Jugendarbeitslosigkeit zu langsam sank. Verstärkend wirken strukturelle Faktoren, die junge Menschen den Zugang zum Wohlfahrtsstaat erschweren. In den meisten EU-Mitgliedstaaten muss ein*e Arbeitnehmer*in zwischen sechs und zwölf Monaten in die Sozialversicherungen eingezahlt haben, bevor ein Anrecht auf Arbeitslosengeld besteht. Diese Situation verschärft sich dadurch, dass befristete Kettenverträge oder Praktika oft nicht sozialversicherungspflichtig sind.
In vielen Ländern ist zudem die Dauer des Arbeitslosengeld extrem gering und/oder es gibt sehr strenge Bedingungen für den Erhalt des Geldes, die wie etwa in Deutschland auch in Sanktionen münden können. In den Niederlanden wird maximal drei Monate Arbeitslosengeld gezahlt. Es gibt aber große Diskrepanzen, weil beispielsweise in Dänemark bis zu 24 Monate ausgezahlt wird. Besonders im Kontext von Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit, wenn von jungen Menschen Auslandserfahrung auch oft erwartet wird, sind diese Bedingungen noch eine größere Herausforderung, wei die sozialen Rechte oft schwierig sind in ein anderes Land mitzunehmen. Gerade deshalb ist schwer zu verstehen wie ein Europäischer Arbeitsmarkt mit Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit ohne gemeinsame europäische Mindeststandards in Sozial- und Beschäftigungspolitik funktionieren soll.
Selbst wenn junge Menschen Arbeit gefunden haben, werden sie wegen ihres Alters diskriminiert. Junge Menschen übernehmen einen Großteil der atypischen Arbeitsverhältnisse. Praktika sind oft gar nicht oder nicht adäquat bezahlt. Hinzu kommen zero-hour contracts, wie sie in Großbritannien üblich sind, bei denen die Mindestarbeitszeit bei null Stunden liegt und die Bezahlung hängt davon ab, ob tatsächlich Bedarf für die Arbeit vorhanden ist. Als eine Folge liegt der Prozentsatz junger Menschen, die trotz Arbeit in 2017 arm waren mit 11 Prozent gegenüber der erwachsenen Bevölkerung von 9 Prozent höher.
Viele europäische Länder (wie zum Beispiel Belgien, Frankreich oder Niederlande) haben einen eigenen Mindestlohn für junge Menschen, der unter dem jeweiligen eigentlichen Mindestlohn des Landes liegt. Neben einer Diskriminierung aufgrund des Alters erleben junge Menschen oft multiple Diskriminierungen basierend auf beispielsweise Geschlecht, Sexualität oder Herkunft.
Ob arbeitslos oder in prekärer Beschäftigung: Junge Menschen waren disproportional stark von der Krise und den unzureichenden sowie falschen Antworten der Mitgliedstaaten betroffen. Aktuell gibt es einen Wettbewerb um das billigste Sozialsystem, während sich Arbeitnehmer*innen frei im europäischen Arbeitsmarkt bewegen. Dieser Wettbewerb muss gestoppt werden; es braucht gemeinsame Regeln für grenzüberschreitend gute Sozialsysteme im europäischen Arbeitsmarkt.
Europa sozialer gestalten, nicht nur für die Jugend
Laut Lissabon-Vertrag sollen die Mitgliedstaaten und die EU zusammen folgende Ziele verfolgen: Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, angemessener sozialer Schutz, sozialer Dialog, Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und Vorbeugung von sozialer Ausgrenzung.
Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise sind diese Ziele in den Hintergrund gerückt. Die EU als Ganzes ist in Schieflage geraten. Ein gemeinsamer Markt hat soziale Konsequenzen, wie oben am Beispiel junger Menschen erläutert. Aber bereits vor der Wirtschafts- und Finanzkrise ist Europa ins Schlingern zwischen wirtschaftlicher und sozialer Integration geraten. Außerdem berücksichtigt der Wohlfahrtsstaat junge Menschen aktuell nicht ausreichend. Bei den künftigen Reformen muss Jugend als eigenständige Lebensphase mit ihren eigenen Risiken und Herausforderungen angesehen werden.
Die EU kann nur erfolgreich sein, wenn neben der wirtschaftlichen Integration auch gemeinsame sozialpolitische Mindeststandards gesetzt werden. Die Solidarität zwischen Menschen und den Mitgliedstaaten muss eine Priorität sein. Nicht zuletzt für die Legitimation der EU ist es entscheidend, dass die EU und die Mitgliedstaaten gemeinsam in der Lage sind, für soziale Sicherheit und wirtschaftlichen Fortschritt zu sorgen.
Im November 2017 haben die EU Staats- und Regierungschefs einen ersten Schritt gemacht und die Europäische Säule sozialer Rechte proklamiert. Die Säule definiert zwanzig Grundsätze sowie Rechte. Sie beschreibt, wie Europa sozialer werden kann. Für die Umsetzung der sozialen Säule braucht es adäquate finanzielle Mittel, klar abgegrenzte Kompetenzregeln sowie einen ehrgeizigen Plan für die Mitgliedstaaten. Doch die soziale Säule reicht nicht aus, dringend sind insbesondere verbindliche Mindeststandards in Sozial- und Beschäftigungspolitik sowie Investitionen zum Beispiel in Form eines Fonds für Bildung und Forschung. Dafür und für ein starkes, soziales Europa setzen wir uns ein.
Quelle: Deutscher Bundesjugendring (DBJR) | Europa sozialer gestalten: Eine Chance